Ich verarbeitete meinen Schmerz über den vermeintlichen Verlust in Form eines Briefes an Carlos:

 

Lieber Carlos!

Als ich Dich das erste Mal auf einem Foto sah, wo Du noch ganz klein warst, zog mich Dein frecher Blick direkt in den Bann. Vorher sah ich Fotos von Deinen Leidensgenossen in dem Shelter in Rumänien. Dein Bruder Kilian weckte zuerst meine Aufmerksamkeit, doch er war bereits versprochen. Julie war mein nächster Blickfang. Sie hatte grau-weisses Fell und schaute mit treuem Blick in die Kamera. Etwas später kam dann Dein Bild. Von Dir gab es im Gegensatz zu den Anderen nur ein einziges Foto. Ich musste bei Deinem Ausdruck auf dem Bild immer an einer Figur aus Fraggle Rock denken. Deine lange Schnauze, Deine neugierig etwas hochgestellten Ohren, Deine beiden hellen Punkte über den Augen, Deine stromlinienförmigen beigen Flecken… Dich wollte ich!

Zu Pfingsten erhielt ich dann ein Foto von Dir von der Seite, wo Du auf einer Liege lagst und gerade die Tortur der Impfung, Kastration und Chipimplantation hinter Dir gebracht hattest. Hier sah man insbesondere an Deiner Schnauze Deinen Schäferhund-Anteil, der vorher noch nicht so ausgeprägt war. Wie oft hab ich mir dieses angeschaut. Toll, wann bist Du endlich hier? Doch das sollte sich noch ne Weile hinziehen. Erst zwei Monate später am 24.6.2015 war Dein Flug von Bukarest nach Stuttgart geplant. Bis dahin war ich dankbar für jedes neue Foto, was aus Rumänien kam und saugte jede kleine Info auf.

Bei unserem ersten Treffen waren wir beide total vorsichtig, umkreisten uns, riechten an uns… Du warst natürlich skeptisch und wusstest nicht, was geschehen wird. Nach dem etwas holprigen Start, wo Du partout nicht die Treppe in die 4. Etage hochlaufen wolltest, freundeten wir uns doch schnell an und es kommt mir nicht so vor, als ob das erst 19 Tage her ist. Was haben wir nicht alles in der kurzen Zeit erlebt und durchlebt.

Die ersten Tage wurdest Du von mir alle 2 bis 3 Stunden raus in den Hof getragen. Natürlich auch nachts. Treppe runter war Dir noch lange nicht geheuer, im Gegensatz zu Treppe rauf, was Du bereits am 2. Tag in einem Tempo absolviertest, was einer Rakete gleichkam. Allein der Spiegelschrank auf halber Höhe hat Dich immer wieder inne halten und Dich selber anknurren lassen. An der Stubenreinheit haben wir lange gearbeitet und es dauerte ne Zeit, bis ich Deine Zeichen besser verstand bzw. bis Du es etwas länger inne halten konntest. Aber immerhin hast Du bis auf 1-2 Ausnahmen immer an dieselbe Stelle gepinkelt und machtest mir das saubermachen daher einfacher.

Nach 2 Wochen mit sehr wenig Schlaf hast Du mich wieder 8 Std. schlafen lassen, hast gelernt, selber die Treppe runter zu laufen, hast nicht mehr am Geschirr rumgeknabbert und die Leine akzeptiert, hast nicht mehr wahllos alles angeknabbert, was Dir in den Weg kam, bist nicht mehr auf mein Bett gesprungen, wo es doch so bequem war während eine der ersten Nächte, wo ich Dich mal reinlies, hast nicht mehr geknurrt, wenn ich Dir nen Knochen wegnahm, uvm…

Belastet hat uns beide dann die Nachrichten über deine vielen Krankheiten. Die Ansteckungsgefahr durch Giardien machte eine Begleitung zu meiner Arbeit unmöglich, wo immer viele Menschen mit teils geschwächtem Immunsystem als auch einige andere Hunde vertreten waren. Auf Grund dessen und der nicht abzusehenden Spätfolgen der anderen Krankheiten war ich gezwungen, Dich wieder abzugeben. Nachdem heute Abend die Ungewissheit der vergangenen Tage zur Klarheit wurde, und mir immer bewusster wurde, dass Du in weniger als 24 Stunden nicht mehr da sein wirst, brach es mir das Herz und es floss nicht nur eine Träne.

Ich werde Dich und Deinen tollen Charakter nicht vergessen. Ich hoffe, dass es Dir auf Deinem weiteren Lebensweg gut geht, Du zu einem gestanden Rüden wirst, der seine leichte Unbeholfenheit und Ängstlichkeit in den Griff bekommt und wünsche Dir ein langes Leben!

Dein Simon

 

P.S.: Die Giardien waren nicht der einzige Grund, die mich letztendlich so entscheiden lies, doch möchte ich auf diese hier nicht näher eingehen. In den letzten Tagen kämpften in mir stetig mein Herz und mein Verstand miteinander. Es war ein langer Prozess, der durch einige Vorkommnisse gelenkt wurde. Carlos spürt das natürlich und insbesondere gestern Abend und heute Morgen sucht er immer wieder meine Nähe, setzt einen Dackelblick auf und weiß, hier passiert irgendwas, was nicht gut ist. Nur was genau, das weiß er nicht.

Nach dem Absenden des Abschiedsbriefes musste ich noch an so viele Begebenheiten denken, die ich gerne näher beschrieben hätte. Ich träumte auch von einigen. So z.B. die ersten Begegnungen mit den anderen „festen“ Hunden von meiner Arbeit, wo sich nach anfänglicher Knurrerei schon fast eine Freundschaft entwickelte. Ich erinner mich an eine Situation, wo sich Carlos und ein fremder Hund eines Gastes intensiv im Café-Raum anbellten und anknurrten, worauf hin zwei der neuen Freunde angerannt kamen und ihm Beiseite standen. So bellten die drei neuen Freunde Nera, Bobby und Carlos gemeinsam den Gästehund an, was in dem gut gefüllten 80 m² Raum für sehr viel Unruhe auch unter den anderen Gästen sorgte. Nachdem wir sie trennten und der Staub sich gelegt hatte, ruhten wir, die drei Herrchen und Ihre Begleiter uns draußen im Schatten eines Baumes aus. Wir lagen alle dicht beieinander und resümierten über die Situation. Das war einer dieser heißen Tage der letzten Zeit, die nicht nur für die Hunde anstrengend war.

Auch bin ich froh, meinen diesjährigen Geburtstag mit Carlos verbracht zu haben. Wir waren mit meinen Eltern am Rhein in Porz und schauten uns den Schiffskonvoi im Rahmen der Kölner Lichter an. Das war ein toller Tag.

Es gibt noch so viel erwähnenswertes, aber es sprengt ja jetzt schon den Rahmen hier… 🙂

Ach Carlos…

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